Mein Erster

Als ich mit fünfzehn Jahren die Jägerprüfung bestanden hatte, bekam ich meinen ersten Rothirsch frei. Damals waren die Hirsche in der Lüneburger Heide längst nicht so stark wie heute, Geweihgewichte über fünf Kilogramm waren eine Sensation. Als in unserem Revier in der Brunft ein Hirsch fiel, der aufgebrochen 136 Kilogramm wog, kamen Jäger von weither, um diesen «Koloss» zu bewundern.

Veröffentlicht am 17.10.2020

Text: Gert G. v. Harling | Fotos: Markus P. Stähli

Ich erinnere mich an eine herbstliche Hasenjagd bei einem Nachbarn, wo auf die Frage, was denn frei sei, der Jagdherr antwortete: «Alles was der Jagdschein erlaubt.»

In dem Revier kam Rotwild, wenn überhaupt, nur alle Jubeljahre einmal als Wechselwild vor. Am Ende des letzten Treibens lag ein dünnstangiges, kaum verecktes ungerades Zehnerchen auf der Strecke. Die Jägerschaft der Umgebung geriet ob des falschen Abschusses in Aufruhr, der Unglücksschütze wurde vor eine Kommission zitiert und musste eine empfindliche Strafe zahlen.

Viele Jahre später sass ich mit ihm zusammen, und wir schwelgten in Erinnerungen an die gute alte Zeit. Da zeigte er mir das Geweih von damals, ein kümmerlicher sieben- bis achtjähriger Hirsch, der nach jetzigen Hegerichtlinien bereits als Zweijähriger hätte geschossen werden dürfen. Am Schädel prangte immer noch der grosse rote Punkt – so ändern sich die Zeiten.

Ich hatte einen 2-c-Hirsch frei. Mein erster Hirsch durfte also maximal ein ungerader Achter sein. Im jugendlichen Übermut und übertriebenen Selbstvertrauen auf die eigenen jagdlichen Fähigkeiten stand für mich fest: Ein Gabler oder gar Spiesser waren auf jeden Fall tabu.

Als ich in den besagten Herbstferien abends aus dem Park des elterlichen Hauses schlich und verhörte, herrschte im Moor reger Brunftbetrieb. Der Wind stand günstig, ich war überzeugt: Dort schiesse ich morgen einen, meinen Achter.

Noch im Dunkeln sass ich auf einer Kanzel am Moor. Fünfzig Gänge vor mir führte ein alter Rotwildwechsel durch den dichten Porst. Ich war sicher, auf ihm würde das Brunftrudel vom dreihundert Meter entfernten Wildacker zurück in den Tageseinstand wechseln.

Es war sehr windig. Auf dem Wildacker röhrte ab und an gelangweilt ein Hirsch, dann meldete eine eigenartige blechern klingende, quietschende Stimme und Sprengruf erschallte, anscheinend wurde ein Beihirsch vertrieben.

Kurz zog ich in Betracht, dem Brunftgeschehen näher zu pürschen, beschloss dann aber in einem Anflug von Überheblichkeit, den Platzhirsch neugierig zu machen und zum Zustehen zu bewegen, in der Hoffnung, ein Hirsch, der mir freigegebenen Klasse 2c würde folgen. Schon bei dem Gedanken wurde ich vom Hirschfieber gebeutelt.

Die Muschel an den Lippen holte ich tief Atem, doch, o Schreck, vor Aufregung brachte ich nur einen gräulich krächzenden Schrei heraus, der in einen Laut überging, den vielleicht eine kalbende Kuh, aber auf keinen Fall ein brunftiger Rothirsch von sich hätte geben können.

Erschrocken liess ich die Muschel sinken. Zu meinem Erstaunen kam aber aus dem hohen Porst ein fauler, missmutiger Trenzer als Antwort auf meine Misstöne.

Ich versuchte es noch einmal, imitierte kurzen Sprengruf, und prompt ertönte ein zorniger Schrei. Dann war Ruhe. Auch der Hirsch am Wildacker verschwieg. Ich rief erneut, aber alles um mich herum blieb still.

Der Wind hatte nachgelassen, rauschte nur noch leise in den Baumkronen und liess Wolken von herbstlich welken Blättern herunterregnen. Da erhaschte ich eine Bewegung. Über dem Wechsel erschien ein Geweih mit zwei dunklen Sechser- oder Achterstangen, es schwebte förmlich über die braunen Stauden dahin und verschwand im Dunst, bevor ich das Fernglas hochnehmen und es ansprechen konnte.

Die kurze Zeitspanne, in der ich den Hirsch gesehen hatte, war er verdeckt. Ich hätte nicht schiessen können, und für mich stand fest, dass ich abends wieder dort ansitzen würde.

Da schrie der Hirsch vom Wildacker, seine Stimme kam näher, das Rudel wechselte vertraut auf demselben Wechsel in meine Richtung. Ein sieben- bis achtjähriger Zwölfer mit weiter Auslage zog mit sechs Stücken Kahlwild vorüber. Als sie verschwunden waren, erschienen ein schwacher Gabler und ein Spiesser. Ich liess sie in einem weiteren Anflug jugendlicher Überheblichkeit unbehelligt ziehen, war ich doch sicher, den Hirsch mit den dunklen Stangen zu strecken. «Aber mit des Geschickes Mächten…» Ich sah an dem Morgen kein Rotwild mehr.

Am Abend pilgerte ich erneut zum Sitz

Es war noch taghell, da meldete weit hinter der Reviergrenze ein Hirsch. Ich erkannte ihn an seiner sonoren Stimme, es war der Zwölfer vom Wildacker, aber ich sah an dem Abend keinen Wedel, keinen Pürzel, keinen Spiegel, keine Lunte, nicht einmal eine Blume.

Lange kämpfte ich mit mir, zum «Süssen Winkel» zu gehen, versuchte mein Heil dann aber erneut auf dem Moorsitz und hatte am nächsten Morgen den Ersehnten vor mir. Linke Stange Sechser oder Achter, rechts sprach ich nach längerem Spekulieren eine Achterstange an, das Ende in der angedeuteten Gabelkrone war kaum auszumachen. Oder bildete ich es mir nur ein? Ich visierte den Hirsch an. Zweifellos war es kein Jüngling mehr. Beim Blick durch das Zielfernrohr war das kurze Ende verschwunden. Wieder nahm ich das Fernglas zu Hilfe, und wieder war da ein kleines Ende zu sehen.

Das Spielchen «Gläschen wechsle dich» wiederholte sich mit demselben Ergebnis. Im starken Doppelglas erschien das Ende, durch die vierfache Zieloptik war es nicht sicher auszumachen.

Der erbitterte Brunftkampf zweier gleichstarker Hirsche auf Leben oder Tod war ein kleines Geplänkel im Vergleich zu dem Kampf, der in mir tobte. «Sein oder nicht sein?», sagte angeblich Hamlet, grübelte ich. Schiessen oder schonen? «Gerader oder ungerader Achter?» Sicherlich war er vier, wenn nicht fünf Jahre alt. Sollte ich das entscheidende Ende einfach übersehen, so tun, als hätte ich es nicht bemerkt? 

Äugte mein Gegenüber zu mir, erschien eine winzige Gabel, wandte er sich ab, offenbarte die Stange ein Sechsergeweih. Da schreckte der Hirsch in meine Überlegungen hinein, sprang ab und nahm mir die Entscheidung ab.

Vier weitere Ansitze …

… verbrachte ich auf bekannten Sitz. Rotwild liess sich weder blicken noch vernehmen, doch am Nachmittag meines letzten Ferientages rief der Zwölfer wieder ohne Pause im Moor. Er brunftete rund vierhundert Meter entfernt. Dem wütenden Orgelkonzert nach zu urteilen, hatte er Mühe, einige Beihirsche von seinem Rudel fernzuhalten. Es war mein letzter Urlaubstag, die letzte Chance, einen von ihnen zu erlegen.

Als ich einen mittelalten, suchenden Hirsch markierte, kam zornige Antwort aus dem Moor. Vorsichtig schlich ich zwanzig, dreissig Meter bis hinter eine buschige Kiefer und schmetterte den Kampfruf hinaus. Sofort antwortete mein Gegenüber, und dann prasselte es auf mich zu: Der Platzhirsch trieb, ob Tier oder Rivalen konnte ich nicht ausmachen, in meine Richtung. Ich verharrte geduckt hinter der Kiefer. Zweihundert Meter entfernt ästen mehrere Stücke Kahlwild unbeeindruckt von dem Brunftgeschehen langsam auf mich.

Stille. Der Wind wehte mir beissende Brunftwitterung entgegen, dann polterten zwei Wildkörper durch den lichten Bestand. Der Zwölfer brachte einen jungen Hirsch, einen geringen Gabler auf Trab.

Noch einmal schrie ich aus Leibeskräften, der Zwölfer verhoffte, ich strich an meinem Zielstock an und schoss, als der Jüngling nur dreissig Gänge vor mir ebenfalls breit stand. Im Knall stürmte er einige Meter auf mich zu. Erschreckt, erregt, erstarrt, vergass ich zu repetieren, wollte davonrennen, doch meine Beine versagten ihren Dienst. Da brach er verendet zusammen.

Und dann stand ich lange vor Aufregung zitternd und mit pochendem Herzschlag neben meinem ersten erlegten Hirsch, einem Gabler mit brandigen Enden, über die unser verständnisvoller Wildmeister später grosszügig hinwegsah.

Ich habe seitdem viele stärkere Hirsche erlegt, aber mein Erster, «nur» ein junger Gabler, ist mein Bester.

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