Das Wildschwein-Paradoxon wurde gelöst

Eine Studie der Technischen Universität Wien und der Leibniz Universität Hannover klärt die hohe Radioaktivität in Wildschweinfleisch.

Veröffentlicht am 25.09.2023

Auch Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist Wildschweinfleisch in manchen Regionen in Deutschland, wie beispielsweise im Schwarzwald unweit der Schweizer Grenze, immer noch verblüffend stark radioaktiv. Des Rätsels Lösung: Man hatte eine wichtige andere Ursache übersehen.

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 hatte auch in Mitteleuropa grosse Auswirkungen auf das Ökosystem Wald. Vom Verzehr von Pilzen wurde damals wegen der hohen radioaktiven Belastung abgeraten, auch das Fleisch von Wildtieren war einige Jahre stark betroffen. Während die Belastung von Hirschen und Rehen im Lauf der Zeit wie erwartet zurückging, änderten sich die Werte beim Fleisch von Wildschweinen aber überraschend langsam. Noch immer werden gemäss Medienmitteilung des Informationsdienstes Wissenschaft (idw) deutliche Grenzwertüberschreitungen gemessen. Bis heute galt dieses «Wildschwein-Paradoxon» als ungelöst – nun konnte durch aufwendige Messungen der TU Wien und der Leibniz Universität Hannover aber eine Erklärung gefunden werden: Es handelt sich um eine Spätwirkung der Atomwaffentests aus den 1960er-Jahren.

Mehr Strahlung, als die Physik erlaubt?

«Entscheidend für die Radioaktivität der Proben ist Cäsium-137, mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren», sagt Prof. Georg Steinhauser von der TU Wien. «Nach 30 Jahren ist also die Hälfte des Materials ganz von selbst zerfallen.» Die Strahlenbelastung von Lebensmitteln gehe aber normalerweise viel schneller zurück. Schliesslich hat sich das Cäsium seit Tschernobyl verteilt, wurde vom Wasser ausgewaschen, in Mineralien gebunden oder vielleicht tief in den Boden verfrachtet, sodass es von Pflanzen und Tieren nicht mehr in derselben Menge aufgenommen wird wie direkt nach dem Reaktorunglück. Die meisten Lebensmittelproben würden daher nach Ablauf einer Halbwertszeit nicht einfach die Hälfte der ursprünglichen Aktivität aufweisen, sondern deutlich weniger.

Bei Wildschweinfleisch sei die Sache gemäss dem Communiqué aber anders: Da blieb die Strahlenbelastung beinahe konstant – sie geht deutlich langsamer zurück, als man das alleine schon durch den natürlichen radioaktiven Zerfall von Cäsium erwarten würde – ein aus physikalischer Sicht auf den ersten Blick völlig widersinniges Ergebnis.

Bis heute werden in ganz Europa Wildschweinfleisch-Proben gemessen, die für den Verzehr nicht geeignet sind, weil ihre Strahlenbelastung den erlaubten Grenzwert deutlich überschreitet. Das mag mitunter auch dazu führen, dass Wildschweine in manchen Gegenden Deutschlands kaum gejagt werden und oft grosse Schäden für Land- und Forstwirtschaft verursachen.

Auf der Suche nach dem Cäsium-Fingerabdruck

Prof. Georg Steinhauser, der 2022 von der Leibniz Universität Hannover an die TU Wien wechselte, ging mit seinem Team diesem Rätsel auf den Grund: Durch neue, präzisere Messungen wollte man nicht nur die Menge, sondern auch die Herkunft der Radioaktivität ermitteln.

Dabei zeigte sich: Während insgesamt rund 90 Prozent des Cäsiums-137 in Mitteleuropa aus Tschernobyl stammen, ist der Anteil in den Wildschweinproben viel geringer. Stattdessen ist ein grosser Teil des Cäsiums im Wildschweinfleisch auf Atomwaffentests zurückzuführen – bei manchen Proben bis zu 68 Prozent.

Die Hirschtru?ffeln sind (wahrscheinlich) schuld

Die Ursache dafür liegt gemäss den Forschenden an den speziellen Nahrungsvorlieben der Wildschweine: Sie graben nämlich besonders gerne Hirschtrüffeln aus dem Boden aus, und in diesen unterirdisch wachsenden Pilzen reichere sich das radioaktive Cäsium erst mit grosser Zeitverzögerung an. «Das Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr», sagt Georg Steinhauser. Die Hirschtrüffeln, die in 20 bis 40 Zentimetern Tiefe zu finden sind, nehmen somit heute erst das Cäsium auf, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Das Cäsium alter Atomwaffentests hingegen sei dort schon lange angekommen.

So ergebe sich ein kompliziertes Zusammenspiel unterschiedlicher Effekte: Sowohl das Cäsium der Atomwaffentests als auch das Cäsium aus Tschernobyl breite sich im Boden aus, die Trüffeln werden somit von zwei verschiedenen «Cäsium-Fronten» erreicht, die nach und nach durch den Boden wandern. Andererseits zerfällt das Cäsium im Lauf der Jahre. «Wenn man all diese Effekte addiert, lässt sich erklären, warum die Radioaktivität der Hirschtrüffeln – und in weiterer Folge der Schweine – grössenordnungsmässig relativ konstant bleibt», sagt Georg Steinhauser.

Somit ist auch nicht damit zu rechnen, dass die Belastung von Wildschweinfleisch in den nächsten Jahren deutlich sinkt, denn ein Teil des Cäsiums aus Tschernobyl wird erst jetzt in die Trüffeln eingelagert. «Unsere Arbeit zeigt, wie kompliziert die Zusammenhänge in natürlichen Ökosystemen sein können», sagt Georg Steinhauser, «aber eben auch, dass man Antworten auf solche Rätsel finden kann, wenn man genau genug misst.»

Quelle: Informationsdienst Wissenschaft (idw)
Hauptbild: Reiner Bernhardt

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