Im Herzen ein ganz Grosser

Sikawild ist nur von aussen ein kleiner Hirsch. Im Detail zeigt sich, dass die Art mit den grossen Verwandten gut mithalten kann.

Veröffentlicht am 24.07.2023

Jede Wildart hat Licht- und Schattenseiten. Beim Sika sind diese besonders grell. Gilt der kleine Hirsch in seinem ursprünglichen Vorkommensgebiet als gefährdet und teilweise bereits weitgehend ausgerottet, so steht er in Europa auf der Liste der ganz bösen Buben: Hier gilt er als invasive Art und wird mancherorts für den Verlust der Biodiversität in seiner neuen Heimat verantwortlich gemacht.

Vom Schicksal gebeutelt

Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der Sikahirsche erstreckte sich von Nordostrussland, China bis auf die koreanische Halbinsel und den japanischen Inselbogen bis Taiwan. Im Süden waren Sika auch in Vietnam heimisch. In der Volksmedizin der Region sind Sikahirsche ähnlich bedeutsam wie in Europa einst der Steinbock. Blut, Muskelfleisch und das Bastgeweih waren und sind begehrt und beliebt. Die hemmungslose Verfolgung der Tiere und der Verlust von Lebensraum liess das Sikawild in vielen Ländern verschwinden. Lokale Vorkommen in China und möglicherweise ganze Unterarten waren vor 50 Jahren ausgestorben. Inzwischen wurde die Art in China unter Schutz gestellt und eigens Schutzgebiete eingerichtet. Die begehrten Sika-Produkte werden in Bastfarmen produziert. In Vietnam ist die Art heute in freier Wildbahn ausgestorben, ebenso wie vermutlich in Korea. In Taiwan hat eine erfolgreiche Aussetzung im Kenting-Nationalpark wieder zu einer stabilen Population auf der Insel geführt. Und in Japan, das auf seinen Inseln gleich eine Reihe von Unterarten beherbergt, kommen Sikahirsche heute auf etwa 40 Prozent der Landesfläche vor, Tendenz steigend. In einigen Tempelbezirken Japans werden Sikahirsche seit Jahrhunderten auch zahm gehalten.

Ausserhalb Ostasiens wurden Sikahirsche seit Mitte des 19. Jahrhunderts in allen Kontinenten ausgesetzt. Die Ent-wicklung der Art in Europa ist besonders gut dokumen-tiert. Auch in Nordamerika gibt es kleine Sikapopulatio-nen, ebenso in Südafrika und Madagaskar. Auf Neuseeland versuchte man Sikawild als Gatterwild wirtschaftlich zu nutzen, was nur wenig Erfolg brachte. Und in Marokko wurden die eingeführten Sika nach einiger Zeit alle wieder getötet. Vermutlich passierte dies auch auf den Philippi-nen und in Papua Neuguinea. Obwohl Sikahirsche keine besonders guten Kolonisierer sind, hat sich die Art in Grossbritannien und Irland weit ausgebreitet. Auch in anderen Staaten wie Tschechien und Deutschland leben inzwischen grosse, ausgedehnte Populationen.

Wer nicht eingefleischter Rotwildkenner ist, kann sich beim ersten Anblick eines Sikahirsches oder einer Sikahirschkuh täuschen. Die Unterscheidungsmerkmale zu Rotwild und Damwild sind eher subtil. Die Decke zeigt im Sommerhaar weisse Flecken, ähnlich dem Damwild, im Winter ist sie graubraun. Die Flecken können aber auch ganz fehlen. Der Wedel ist etwas kürzer als bei Damwild und zeigt einen schwarzen Rand. Das Haupt wirkt im Gegensatz zum Rotwild gedrungen, die Lauscher kleiner. Das beste Unterscheidungsmerkmal bietet ein Blick auf den Spiegel. Dam- und Sikawild haben einen herzförmigen, weissen Spiegel, der beim Damhirsch einen hufeisenförmigen, schwarzen Rand hat. Beim Sika ist nur an der Oberseite ein schwarzer Strich erkennbar – im Vergleich zum Rotwild, das keine markante schwarze Betonung der Hinterpartie hat.

Die Schwierigkeit, Sikawild eindeutig zu beschreiben, liegt an der Vielfalt der Art in ihrem ursprünglichen Ver-breitungsgebiet. Bis zu 16 verschiedene Unterarten wurden aus den einzelnen Vorkommen beschrieben. Nachdem die meisten Populationen bereits stark geschrumpft oder nicht mehr in freier Wildbahn vorhanden waren, mussten sich Taxonomen mit der Beschreibung einzelner Zoo-Exemplare oder Präparate begnügen. Kein Wunder, dass dann jede Abweichung in Körpergrösse, -form oder Geweihbildung zu einer neuen «Unterart» führte. Genetisch lassen sich eindeutig drei Unterarten-Gruppen bestätigen: Sika der Nordjapanischen Inseln, Sika aus Südjapan und Sika aus China. Die Ausbürgerungen nach Europa kamen von unterschiedlichen Herkünften aus allen drei genetischen Gruppen. Der grosse Dybowski-Sikahirsch, benannt nach einem polnischen Naturforscher, wurde dabei ebenso eingeführt. Weil es auch zu Vermischungen bei den eingesetzten Sika gekommen sein kann, lässt sich die Herkunft europäischer Vorkommen nicht mehr genau rekonstruieren. 


Wiege der Hirsche

Hirsche gibt es in Dutzenden Arten auf der Welt. Die Entfaltung dieser besonderen Gruppe von Säugetieren erklärt ihr Vorkommen, ihre Lebensweise und auch ihre Probleme in heutiger Zeit. Ein Blick in die Evolution der Hirschartigen zeigt, wo wesentliche Weichenstellungen erfolgten. Die Dinosaurier waren gerade erst verschwunden, als die ersten Ur-Paarhufer vor 60 Millionen Jahren durch das dichte Unterholz tropischer Wälder – die damals auch im heutigen Mitteleuropa wuchsen – hüpften. Rund 35 Millionen Jahre später lebten in ähnlichen Lebensräumen bereits die ersten «Hirsche»: Anfangs trugen sie noch kein Geweih, sondern schüchterten Freund und Feind mit langen dolchartigen Eckzähnen im Oberkiefer ein. Ein Relikt dieser «Ur-Hirsche» ist das heute noch lebende Chinesische Wasserreh. Die ersten Hirsche mit einem primitiven Geweih tauchten vor etwa 15 Millionen Jahren auf. Eine Ahnung, wie diese Tiere ausgesehen haben müssen, liefert das Muntjak, das ebenfalls im tropischen Asien lebt.

Die Unterscheidungsmerkmale von Sika zu Damwild (Bilder) sind eher subtil. (Bild: Reiner Bernhardt)

Als vor fünf bis sieben Millionen Jahren die Welt global abkühlt, bedingt diese Klimaveränderung einen grossfl ächigen Landschaftswandel. Es entstehen off ene Waldlandschaften und Steppen, auf denen Gräser gedeihen. Diese fast unerschöpfliche Nahrungsquelle kann nutzen, wer einen Pansen besitzt, in dem Bakterien die unverdaulichen Zellulosen aufspalten. Die Hirsche beginnen sich in dieser Zeit in zwei Entwicklungslinien zu teilen: eine ältere Linie, die «telometacarpalen» Hirscharten, steht am Ursprung von Arten wie Reh, Elch, Rentier sowie den kleinen amerikanischen Hirscharten. Die jüngere Linie der «plesiometacarpalen» Hirsche bildet die Stammformen der echten Hirsche aus. Frühe Formen glichen den heutigen Axis- und Rusahirschen. Die Begriffe telometacarpal und plesiometacarpal beziehen sich auf die Ausbildung der Mittelhand-knochen der Tiere. Bei den Arten der älteren Linie bleiben die unteren Fingerglieder bei den Afterklauen erhalten, bei den jüngeren sind diese verkümmert. Das hat für die Tiere durchaus praktische Bedeutung und gibt einen Hinweis darauf, ob sie ihren Beutegreifern eher als «Schlüpfer-Typ» mit wenigen Sprüngen zu entkommen suchten oder als Läufertyp wie bei den jüngeren echten Hirschen.

Aus einer gemeinsamen Entstehungszone in Zentralasien wandern in diesem Zeitraum auch Hirsche nach Westen und nach Osten und spalten sich dabei in weitere Unterarten auf. Von den nach Westen ziehenden Hirschen leben in Zentralasien noch Hanglu-Hirsche, die manchmal auch in weitere Unterarten wie den Buchara-Hirsch und Yarkand-Hirsch gegliedert werden. Auf dem Weg nach Europa bog eine Gruppe nach Süden ab und besiedelte die Gebiete des heutigen Iran, der Westtürkei und Osteuropas. Die andere Gruppe, die Urahnen des mittel- und westeuropäischen Rotwildes, zog auf einer nördlicheren Route bis an den Atlantik. Während des Eiszeitalters, das vor etwa 1,8 Millionen einsetzte, veränderte sich auch dieses Rotwild. In den Kältesteppen lebten sehr grosse Hirsche an der Seite von Mammut, Rentier und Wollnashorn. In den Warmzeiten bevölkerten kleinere Hirsche zusammen mit Rehen, Damwild und Löwen die Wälder Europas. Doch der Typ «Rothirsch» änderte sich kaum noch, mit Ausnahme einiger Kältearten, die zum Ende der Eiszeit ausstarben.

Ganz anders in Asien. Dort wimmelt es von echten Hirscharten: Weisslippenhirsche, Sambar, Zackenhirsch eben in vielen Unterarten noch heute in Zentral- und Südasien. Eine Gruppe von Hirschen zog auf einer nördlichen Route nach Osten. Aus diesen Tieren entwickelten sich drei Arten: der Sibirische Maral, der amerikanische Wapiti, der über die Landbrücke der Beringstrasse nach Nordamerika zog, und der Sikahirsch. Sie besiedelten im Wesentlichen ähnliche Lebensräume und Klimazonen, wie die Hirsche, die nach Europa eingewandert waren. Daher erstaunt es auch nicht, dass sie ähnliche Verhaltensweisen zeigen und sich in der Körpergrösse und -variation ähnlich sind: in kälteren Regionen sind sie grösser und schwerer, in warmen Vorkommensgebieten kleiner und leichter. So kann es der grosse Dybowski-Sikahirsch, der im Norden Chinas und im Osten Russlands lebte, mit schottischen Rothirschen auf nehmen. 

Doch in einem Merkmal kann auch ein Blinder die «Osthirsche» von den «Westhirschen» unterscheiden: In der Brunft stossen Marale, Wapiti und Sikahirsche ein melodisches Pfeifen oder Jodeln mit einer Frequenz von 196–1187 Hertz aus, vermischt mit Stöhnlauten. Die Hirsche im Westen sind für ihr tiefes Röhren (107 Hertz) bekannt. Vermutlich ist dieses Röhren evolutionsgeschichtlich älter als das östliche Jodeln. Darauf weisen eine Reihe von Untersuchungen mit Hirschkü-hen hin, denen man Brunftlaute vorspielte. Rothirschkühe äsen beim Einspielen von Sika- oder Wapitipfeiflauten unbeeindruckt weiter. Bekommen sie dagegen Brunftröhren vorgespielt, bewegen sie sich zielgerichtet zu den Lautsprechern, aus denen die tiefsten Orgeltöne kommen. Und auch Sika-Kühe zeigen sich sehr interessiert, wenn sie Rothirsche röhren hören. Die Erinnerung an den männlichen Laut scheint auch bei ihnen noch vorhanden zu sein.

 

Während der herbstlichen Brunftzeit versucht der Sikastier ein Hirschkuh-Rudel zu bewachen und die empfängnisbereitenTiere zu beschlagen. (Bild: Karl-Heinz-Volkmar)

Missverständnisse bei der Brunft

Der Jahreszyklus von Sikawild gleicht dem von Rotwild. Während der herbstlichen Brunftzeit versucht der Sikastier, ein Hirschkuh-Rudel zu bewachen und die empfängnisbereiten Tiere zu beschlagen. Bei geringer Wilddichte oder wenn kaum Freiflächen für die Brunft zur Verfügung stehen, kann sich ein Sikastier auch «territorial» verhalten. Kommen Sikawild und Rotwild gemeinsam vor, kann es passieren, dass ein Sikastier bei einer jungen Rotwild-Hirschkuh sein Glück sucht. Aber genauso können Sika-Kühe von Rothirschen beschlagen werden. Auch im natürlichen Überlappungsgebiet der beiden Arten, zum Beispiel in der Ussuri-Region Sibiriens, kommt es immer wieder zu Hybrid isierungen. Solche Regionen, in denen die Genpools zweier verwandter Arten ineinanderfliessen, nennt man «Introgressions- Zone». Die Vermischung der beiden Arten bleibt dabei auf diesen Bereich begrenzt, kann aber noch Jahrtausende lang nachgewiesen werden.

Wo zwei Schwesterarten, wie Rot- und Sikawild, dagegen künstlich zusammengebracht werden, kann theoretisch eine Art in der anderen aufgehen. Als die ersten Sika-Genspuren in britischen Rotwildvorkommen nach-gewiesen wurden, herrschte unter Wildbiologen und Genetikern Alarmstimmung. Nur die direkten Nachkommen einer Fehlpaarung sind noch als solche äusserlich erkennbar, weil sie Merkmale aus beiden Arten tragen. Spätere Nachkommen der fruchtbaren Hybriden sind nur noch an den typischen Genen der jeweils anderen Art erkennbar, die nun von Generation über Generation weitergegeben werden. So scheint es, dass im süd lichen England keine einzige reine Rotwildpopulation mehr be-steht. Alle tragen zu einem Teil Sikagene. Nur auf den Inseln der schottischen Hebriden lebt noch «echtes» Rot-wild, weshalb auch keine Rothirsche aus südlichen Vorkommen, geschweige denn Sikawild dorthin verbracht werden dürfen. Nachdem bis in jüngste Zeit immer wieder englisches Rotwild auf dem europäischen Festland ausgesetzt wurde, vor allem, um die Endenfreudigkeit der schottischen Hirsche in Mittel- und Osteuropa zu etablieren, könnten auch bereits damals unbeabsichtigt Sikagene weiterverteilt worden sein. In den Vorkommensgebieten von Sikapopulationen in Europa versucht man daher, die Überschneidung mit Rotwildvorkommen zu vermeiden. Abwandernde Sikahirsche werden in vielen Ländern konsequent erlegt. Frankreich versucht, seine Sikavorkommen auszurotten, was vermutlich nicht komplett gelingen wird, da auch Sikawild bei starkem Jagddruck nachtaktiv und nur noch schwer bejagbar wird. Bei den bisherigen Hybridisierungsstudien wurde jedoch noch wenig darauf geachtet, welchen Einfluss Wilddichte, Sozialstrukturen und Störungen auf die Wahrscheinlichkeit haben, dass sich Sika- und Rotwild bei der Brunft «irren». Denn es gibt auch Regionen, wie in Österreich, in denen keine Hinweise auf eine genetische Vermischung gefunden wurden. Verhaltensstudien in der freien Wildbahn, ob von Jägern oder Forschern durchgeführt, könnten hier noch wertvolle Einblicke liefern.

Text: Christine Bilder
Hauptbild: Winfried Schäfer

 

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