Jägerhirsch und Zwurgel: das Ende der beiden Kapitalen

JAGD&NATUR durfte in unregelmässigen Abständen während rund eines Jahres am Leben der beiden Rothirsche teilhaben. Nun wird das letzte Kapitel geschrieben.

Veröffentlicht am 28.08.2023

Im Alter nutzen der Jägerhirsch und sein Gefährte Zwurgel gemeinsam die Einstände in Dorfnähe. Häufig stehen sie beisammen. Aber je nach Jahreszeit und möglicherweise je nach Beduürfnissen lösen sie sich tageweise oder wochenweise voneinander. Sie gehen dann im selben Gebiet ihre eigenen Wege.

Ältere Rothirsche sind häufig ganzjährig einzelgängerisch unterwegs oder haben, wenn man der Literatur glaubt, einen jungen «Beihirsch» in ihrer Nähe. Letzteres trifft nach meinen Beobachtungen von mittlerweile einer ganzen Anzahl reifer bis alter Hirsche kaum zu, und wenn, dann höchstens für jeweils wenige Tage. Abhängig ist dies unter anderem vom Angebot beziehungsweise von der Anzahl Hirsche im Gebiet oder es kann durch individuelle Vorlieben oder nicht zuletzt durch Zufall zustande kommen. Vielmehr sind junge Hirsche im Jugendtrupp versammelt, und wenn sie in den 5. oder 6. Kopf aufwachsen, gesellen sie sich allmählich zum Verband der reifen Herren. Einzelne Hirsche bleiben in diesem Trupp der Reifen bis ins höchste Alter, andere sondern sich nach etwa dem 12. Kopf ab und sind dann meist einzelgängerisch unterwegs.

Der Jägerhirsch war früh schon allein unterwegs. Wahrscheinlich bereits mit beginnender Reife nach Verlassen des Jugendtrupps wählte er recht einsiedlerisch seine Einstände abseits der grösseren Hirschverbände. Der Hirsch Zwurgel schloss sich mit beginnendem Erwachsenenalter dem Sommer- und Wintertrupp der älteren Geweihten an. Bereits im 7. Kopf aber verliess er kurzzeitig diesen Club, um mehrere 100 Höhenmeter tiefer mit dem Jägerhirsch zusammen zu überwintern. In den drei folgenden Winter stiess er jeweils zu Beginn der kalten Jahreszeit wieder zum grösseren Rudel oben auf den südwestexponierten Sonnenterrassen. Ab dem 11. Kopf tat er sich definitiv mit dem Jägerhirsch zusammen, um die verbleibenden Sommer und Winter mit ihm gemeinsam in tieferen Lagen zu verbringen. 

Individuelle Unterschiede

Was hat den Jägerhirsch veranlasst, nicht im klassischen, bewährten Hirsch-Einstand oben auf den Sonnenterrassen zu überwintern? Und warum hat sich Zwurgel nach mehrmaligem Wechsel endgültig mit dem Jägerhirsch zusammengetan? Fakt ist, dass einzelne Hirsche den grösseren Verband meiden. Damit fallen zwar die Vorteile des Gruppenlebens weg, gleichzeitig können so sämtliche sozialen Spannungen umgangen werden. Was wir nicht wissen: Möglicherweise hat sich der Jägerhirsch auch mit einem damalig vielleicht Dominanten im grösseren Hirschtrupp nicht vertragen und so die Einsiedelei gewählt. Vielleicht hat er gemerkt, dass er allein unauffälliger dorthin wechseln kann, wo die Äsungsgründe für einen einzelnen Hirsch perfekt passen. So kann er auch eine weitere Nahrungsquelle nutzen. Zu beginnender Reife hat der Jägerhirsch sich im Winter in den Schutzwäldern oberhalb des Dorfes eingestellt und ist als regelmässiger Gast bei einem abgelegenen Gehöft mit damals noch offenem Mais-Fahrsilo aufgetaucht. Als Jahre später dieses Maisangebot ausblieb, verliess der Jägerhirsch diesen Platz talwärts und stellte sich endgültig in der Nähe des Dorfes jeweils in einem von vier Einständen ein.

Die Distanzierung Zwurgels vom grossen Hirschtrupp hingegen war mehr ein Austesten, was besser passt. Wir wissen nicht, was ihn dazu bewogen hat, ab dem 11. Kopf unten im Tal einzustehen. Es können die besseren Einstands- und Nahrungsmöglichkeiten gewesen sein, vielleicht aber auch die Harmonie mit dem Jägerhirsch und das Profitieren von dessen Erfahrung. Was Fakt ist: Die beiden unterscheiden sich nur um drei Jahre und bilden damit ein ausgewogenes Duo, also zwei Hirsche in derselben Sozialklasse, aber mit unterschiedlichem Rang.

Selbst nach dem definitiven Schulterschluss zogen die beiden aber nicht dauernd gemeinsam ihre Fährten. Sie lenkten ihre Schritte während der winternächtlichen Streifzüge häufig unabhängig voneinander durch die abgeernteten Gemüsegärten. Und auch die Wahl des Tagesliegeplatzes im Sommer wurde nicht selten einzeln und individuell angepackt. So habe ich in der warmen Jahreszeit mehrfach beobachtet, wie beide beim ersten Morgengrauen noch gemeinsam in der Obststreuwiese geweidet haben, dann aber in unterschiedliche Richtungen abmarschiert sind. In diesen Fällen sind Tageseinstände gewählt worden, welche 300 bis 600 Meter voneinander entfernt lagen. Es konnte dann gut und gerne eine Woche dauern, bis beide wieder für Tage oder gar Wochen gemeinsam ihre Trittsiegel hinterliessen.

Zwurgel (vorne) 9. Kopf, Jägerhirsch 12. Kopf – allmählich finden die beiden zusammen.

Trennung im Herbst

Diesen insgesamt aber doch gemeinsam genutzten Sommer- und Winterlebensraum verliessen die beiden nur bei nahendem Herbst. Regelmässig gegen Ende August entfernten sie sich unbemerkt aus ihren tief gelegenen Einständen, wahrscheinlich auch wieder individuell und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Bereits in der ersten Septemberhälfte machten sie auf ihren hoch gelegenen Brunftplätzen lautstark auf sich aufmerksam. Auf dem Weg dorthin traversierte der Zwurgel ein einziges Bergbachtobel und stellte sich in einem südwestlich exponierten steilen Bergwald ein. Der Jägerhirsch hingegen machte sich in entgegengesetzter Richtung auf und querte zwei grosse Wasserrisse. Er bezog seine Brunftbühne in einem etwas entfernteren Nordhang. Die Brunftplätze liegen jeweils in einem Jagdschutzgebiet. So kamen die beiden Kapitalen wohl kaum je einem Bündner Jäger zu nahe. Gegen Ende Oktober wiederum, nach verrichteter Fortpflanzungsmission, trafen sich die beiden zuverlässig zum Stelldichein im bekannten Wintereinstandsgebiet unten im Tal.

Solche gewohnten Bewegungsmuster behalten reife Hirsche jahrelang bei. Erst mit beginnender Vergreisung und damit einhergehender Änderung im Hormonhaushalt wandelt sich dies. Häufig bleiben alte Hirsche in ihrem Sommerlebensraum zurück und suchen den Brunftplatz spät oder gar nicht mehr auf. Damit werden sie plötzlich für den Weidmann verfügbar.

Brunft im 15. Kopf: Jägerhirsch steht wie gewohnt bei seinem Harem.

Der Jägerhirsch wird alt

Den älteren der beiden, den Jägerhirsch, ereilt das Schicksal zuerst. Mit 17 Jahren zeigt er sich erstmals schwächlich. Die über meterlangen Stangen verliert er wie gewohnt bereits Mitte Februar. Dabei wird der vom Winter deutlich gezeichnete Hirsch von einem Stangensucher sinnlos weit in eine Nordflanke hinaufgetrieben. Dies ist bei einer meterhohen Schneedecke für den Hirsch derart kräftezehrend, dass er erst mehrere Tage später wieder auf günstigem Boden neben dem Dorfe steht. Die zweite Stange wird dann auch erst im August weit entfernt vom üblichen Einstand von einem Waldarbeiter gefunden. Die Zeltschnur, welche noch an der Krone verknotet ist, zeigt, dass Dorfspaziergänge zur Gefahr werden können.

Die aus dem Winter hervorgehende körperliche Schwäche hat der Jägerhirsch im Frühling nicht aufholen können und im Frühsommer auch nur zögerlich. Das Geweih ist dennoch prächtig wie eh und je und zeigt nun zum dritten Male ungerade 18 Enden. Einzig die Stangenlänge hat erstmals etwas eingebüsst. Sein Geweih hat der Jägerhirsch wie gewohnt Anfang August verfegt. Zu Gesicht aber bekommt den äusserst Heimlichen nur der kundige Beobachter. Die Aktivität wird fast gänzlich in die Nacht verlegt. Zur Feistzeit zeigt er sich erstmals nicht von derartiger Körperfülle wie in den vorangehenden Jahren. Vor allem ist der ruhende Hirsch häufig geplagt von Blähungen und Bauchkrämpfen. Ob er in diesem Zustand noch ein letztes Mal den Brunftplatz aufsuchen wird?

Den Beginn der Bündner Hochjagd indes hätte der Jägerhirsch nicht zu fürchten gebraucht. Kronenhirsche sind in diesem besagten Jahr erst am vierten und fünften Jagdtag zur Bejagung freigegeben. Dass aber die einheimischen Jäger das Gebiet in den ersten drei Tagen äusserst zaghaft angehen und schonen, dies könnte dem Hirsch definitiv zum Verhängnis werden. Vielleicht hätte eine Störung gereicht, um ihn doch noch im allerletzten Moment in Richtung Brunftplatz aufbrechen zu lassen? Dazu soll es endgültig nicht kommen. Am Morgen des ersten Kronenhirsch-Jagdtages ist der Aufmarsch der Weidgenossen wie zu erwarten gross, das Gebiet gut verstellt. Die perfekt platzierte Kugel trifft den Kapitalen bereits im Einstand. Der Lebensnerv ist abgeschnitten. Der Hirsch ist von seinen Altersleiden erlöst.

Wie sich später herausstellt ist das Gebiss derart abgenutzt und nur noch unvollständig vorhanden, dass das Wiederkäuen sicherlich schwergefallen ist. Im letzten Mageninhalt befinden sich nebst etwas Grünzeug auch Rohfasern, vor allem aber viele kleine unverdaute Äpfel und Birnen. Sollte er diesen Inhalt mit unvollständigem Gebiss später im Wiederkäuen zu einem gleichmässigen Brei verarbeiten? Nicht erstaunlich, dass die Verdauung bereits im Sommer schwierig war.

Dass der Hirsch immer durchs Dorf zog, ist eigentlich aber schon Hinweis genug, dass er auch schwerer verdauliche Köstlichkeiten aufnehmen konnte. Dies zeigt sich auch im Mageninhalt. Nebst allem anderen ist eine ganze Handvoll Unrat zusammengekommen: Schnüre, Vogelfutternetze, Plastikreste, Gummibänder und sogar viele der kleinen Aufkleber von Orangen und Kiwis. Der Zivilisationsgesellschaft wird der Spiegel vorgehalten, was einem Wildtier «gut gemeint» angetan werden kann.

Jägerhirschs letzter Auftritt auf dem Brunftplatz, 16. Kopf.

Zwurgel ist alleine

Der Jägerhirsch ist nicht mehr. Der Hirsch Zwurgel, nun im 14. Kopf, hat nichts davon mitbekommen, denn er steht zum Abschusszeitpunkt etwas entfernt im benachbarten Einstand. Am selben Tag, an dem der Jägerhirsch erlegt wurde, ist Zwurgel den Grünröcken im Trieb durch die Lappen gegangen. Jagdbar nämlich ist er während der ganzen Hochjagd mit rechts einer Eissprosszehnerstange. Links zeigt er auch nur fünf Enden, wobei die Mittelsprosse derart hochgerückt ist, dass nun am oberen Stangenende drei Enden emporragen. Wann er das Schutzgebiet aufgesucht hat, ist schwer zu sagen. Wenige Tage später jedenfalls steht er auf gewohntem Posten auf seinem Brunftplatz. Dieses Schutzgebiet hat er erst nach der Brunft und damit nach der Bündner Hochjagd wieder verlassen, um sich zuverlässig im Wintereinstand einzufinden. Ob oder wie er nach dem Jägerhirsch gesucht hat, bleibt Spekulation. Wir wissen nicht, was in einem Hirsch vorgeht, dessen langjähriger Gefährte plötzlich nicht mehr ist.

Aufgrund der im folgenden Winter strengen Schneeverhältnisse ist er aber in Gesellschaft. Ausnahmsweise wechselt das ganze Überwinterungsrudel, welches sonst weit oben auf den Hangterrassen die kalte Jahreszeit verbringt, talwärts und verbringt grosse Teile des Winters gemeinsam mit ihm. Seine klobendicken Stangen wirft er im Februar ab. Von diesem Zeitpunkt an ist er endgültig allein unterwegs, bleibt seinen Einständen aber treu. Nur am Liegeplatz, wo der Jägerhirsch gestorben ist, zeigt Zwurgel sich erst im Oktober wieder (13 Monate nach dem Tod vom Jägerhirsch).

Das neu spriessende Geweih, der 15. Kopf, mündet beidseitig in eine klobige Gabel. Dies war letztmals im zweiten Kopf der Fall. Die rechte Stange weist jetzt im Alter weitere Kuriositäten auf. Die schon seit Jahren rechtsseitig nach aussen abfallende Eissprosse tut dies noch viel deutlicher als an allen Geweihen zuvor. Und lang ist sie geworden. Die Augsprosse ihrerseits weist ungewöhnlich flach nach vorne, um an der Spitze auch rechts abzuwinkeln. Ausserdem sitzt ihr im vordersten Drittel eine weitere ganz kurze Sprosse auf. Mit dieser Geweihausbildung wird Zwurgel nun zum zweiten Mal während der Bündner Hochjagd schussbar.

Den Sommer verbringt er meist im gewohnten kleinen Einstand in der Schlagfläche, wird da aber kaum je von jemandem gesehen. Ende August zeigt er sich von einer Feiste, wie ich es bei Bündner Hirschen noch nie gesehen habe. In welchem seiner vier Einstände er die Jagdzeit verbringt, entzieht sich meinen Kenntnissen. Auf dem Brunftplatz jedenfalls erscheint er nicht mehr. Ob er im Sommereinstand am Dorfrand gebrunftet hat, weiss ich nicht. Gehört jedenfalls hat ihn niemand. Und so ist ihm auch kein Jäger auf die Schliche gekommen. Nur ein einziger, ein ausgezeichneter Hirschjäger, hatte mir gegen Ende September von einer gut benutzen Suhle und von grossen Trittsiegeln in unmittelbarer Dorfnähe berichtet. Die Jagdzeit endet mit dem September. Die jagdlichen Chancen sind vertan. Damit könnte Zwurgel noch ein Jahr älter werden.

Zwurgel im Winter am Dorfrand, 14. Kopf.

Es kommt anders als erwartet

Im frühen Winter, so Dorfbewohner, hat Zwurgel sein Geweih mit einem Netz beladen. Wochenlang jedenfalls hing der Fremdkörper im Geweih. Am ersten Januar beobachten Anwohner, welche auf dem Weg zum Neujahrsapéro durchs Dorf ziehen, Zwurgel dösend in einem Vorgarten mitten im Dorf. Die aufgebotene Wildhut packt die Chance beim Schopf, um den Hirsch vom unliebsamen Schmuck zu befreien, bevor er irgendwo hängen bleibt oder sich selbst stranguliert. Ein ausgewiesener Spezialist immobilisiert den Hirsch. Nachdem das Geweih vom Netz befreit ist, erwacht der Hirsch Zwurgel allmählich. Während des Erwachens aber verliert der Hirsch nochmals die Besinnung und stirbt. Vermutlich hat sein Kreislauf dieses Prozedere nicht mitgemacht. Mit der Gesundheit des Hirsches stimmte offensichtlich etwas nicht. Denn am hellheiteren Tag mitten im Dorf ruhen und sich auch von den Leuten nicht stören lassen, spricht nicht für einen gesunden Hirsch. Die Jäger haben ihre Chancen auf den Kapitalhirsch zwei Jagdzeiten hindurch nicht zu nutzen gewusst und nun ist der Fünfzehnjährige ein Opfer der Zivilisation geworden (Gewicht des trockenen Geweihes mit ganzem Schädel 7890 g).

Innerhalb von 16 Monaten also sind beide Dorfhirsche von der Bildfläche verschwunden. Einzelne wenige Gartenbesitzer sind erleichtert, viele andere vermissen die Geweihträger. Die Wildbahn aber hat zwei Senioren weniger. Beide sind kurz vor ihrem jeweils natürlichen Ende gestorben. Für Nachwuchs haben sicherlich beide nach ihren Möglichkeiten gesorgt. Ihre Brunftplätze sind nun endgültig frei für jüngere Kämpfen.

Ende Oktober: Der Körperfülle nach zu urteilen, hat Zwurgel im 15. Kopf nicht mehr gebrunftet.

Text und Biler: Fabian Riedi

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