Niederjagd im goldenen Herbst

Goldgelb leuchten die Engadiner Lärchenwälder. Auf den Berggipfeln liegt bereits der erste Schnee. Für passionierte Niederwildjäger ist die schönste Zeit des Jahres angebrochen. Sie machen sich auf die Fährten von Füchsen, Hasen und Hühnern.

Veröffentlicht am 22.10.2020

Text und Fotos: Dominik Thiel

Allmählich kriecht die Kälte auch in den Biwaksack und lässt keinen Schlaf mehr zu. Über mir funkeln nur noch knapp die letzten Sterne am Engadiner Nachthimmel, der Morgen naht. Jetzt heisst es aufstehen, sich in warme Tarnkleider hüllen und mit der Flinte unter der alten Arve den blauen Hähnen harren. Die Dämmerung lässt immer mehr Konturen erkennen, Grautöne erhalten Farben. Doch die Bühne bleibt leer. Genau hier sass ich vor Jahren mit meinem ersten Niederjagdpatent im Sack, als im Nebel vor mir fünf Birkhähne den Hang zu Fuss querten. Damals dachte ich: Viel zu weit für einen Schrotschuss. Erst viel später, als ich mir den ersten Distanzmesser kaufte, erkannte ich, dass es nur 20 Schritt waren. Nebel trügt. – Nach zwei Stunden und den ersten Sonnenstrahlen im Nacken packte ich meine Sachen unter der Arve zusammen und begann den Rückmarsch. Doch ich kam keine 100 Meter, da zischte und kullerte es vor mir. Aha, die Hähne haben ihren Standort für die Nachbalz, zumindest für heute, gewechselt. Wie auf Eiern pirschte ich zwischen den goldenen Lärchen und dem dorren Gras den Hähnen entgegen, die letzten Meter flach kriechend, den Rucksack längst deponiert. Da, 50 m vor mir steht der eine blaue Ritter in den Zwergsträuchern und lauscht seinem Konkurrenten im Baum. Noch eine Bewegung, da hat er mich erkannt. Keine Chance, auf Schussdistanz näher heranzukommen. Also wieder 1000 Höhenmeter runter ins Dorf, ohne Beute, aber reich mit Erlebnissen, Gefühlen und noch mehr Jagdfieber.

Den weissen Hühnern gilts

Wer die Krummholzzone hinter sich lässt und an den Nordflanken weiter hinaufsteigt, erreicht bald den Schneehuhnlebensraum. Strukturreiche, mit Felsen oder Schneefeldern durchsetzte Geröllhalden, vielleicht ein kleiner Bergsee in der Nähe. Hier leben die «Hasenfüsse» (lateinisch Lagopus), welche zahlreiche arktisch-alpine und karge Lebensräume auf der gesamten Nordhalbkugel der Erde besiedeln. In den Alpen teilen die winterlichen Überlebenskünstler als Relikte der Eiszeit ihren Lebensraum mit Schneehase, Schneesperling und Gämse. Heute suche ich den Rand des Schneefeldes in einem grossen eintönigen Kar ab. Nebelfetzen verwandeln die Landschaft zeitweise in ein stilles Zimmer. Ich muss nicht lange warten, da höre ich das Knarren eines Schneehuhns im Nebel vor mir, als würde sich eine alte Stalltüre langsam öffnen. Ideale Verhältnisse für die Schneehuhnjagd. Bald antworten weitere Hühner, und so kann ich sie genau orten. Drei, vier, fünf weisse Kugeln tappen vor mir auf dem Schnee umher. Nein, es sind mehr, es werden immer mehr, ich komme auf 34 Stück! Ohne Probleme kann ich mich auf Schussdistanz nähern. Die Schrote lassen ein Huhn abseits des Schwarms den Hang herunter purzeln. Der Schwarm fliegt auf, der Spuk ist vorbei. Welch ein Wunder, als ich den Federknäuel in der Hand halte, die Füsse bis auf den letzten Millimeter befiedert, den Kropf voller Alpenazaleen. Muss das sein? Was habe ich davon? Wer steigt schon nachts über 1000 Höhenmeter rauf, um beim ersten Morgengrauen ein Schneehuhn zu erlegen, oder auch zwei (Tageskontingent im Kanton Graubünden), und dann die 400 Gramm Beute ins Tal zu tragen? Dankbar halte ich das Huhn in der Hand. Diesmal war die Jagd erfolgreich. Es ist eines der rund 300 Schneehühner, welche jährlich in der Schweiz erlegt werden. Nur noch in drei Kantonen ist die Jagd auf diese weisse Perle erlaubt. Richtig, es gibt keine Notwendigkeit, ein Schneehuhn zu schiessen. Genauso wenig notwendig, wie einer mit dem Motorrad vier Alpenpässe pro Tag überwindet oder sich im Gourmet-Tempel einen Achtgänger für 500 Franken servieren lässt. Der Klimawandel wird das Schneehuhn auch ohne Jagd in die Ecke drängen, leider, genauso, wie sich auch das Auerhuhn trotz jahrzehntelangem Jagdverbot still aus den Bergwäldern verabschiedet und das Rebhuhn seit 2019 in der Schweiz als ausgestorben gilt.

Geliebte Niederjagd – wie lange noch?

Dado, der Berner Laufhund, leistet heute Schwerstarbeit. Ein trockener, warmer Oktobermorgen in einem Seitental des Julierpasses. Immer wieder verliert er die Hasenspur. Mir wird es nicht langweilig. Immer wieder zieht ein spät brunftiger Hirsch oder ein Stück Kahlwild vor mir über die Alpweide, keine 100 Meter entfernt. Gelegentlich ertönt ein fast lustloses müdes Röhren. Ja, die Kraft ist draussen. Und plötzlich steht ein wirklich kapitaler Feldhase vor dem Fichtenjungwuchs direkt vor mir und blinzelt der Morgensonne entgegen, als wäre er schon ewig hier. Er zeigt kein Zeichen von Stress, obwohl ihm Dado auf den Fersen ist. Mit fünf Minuten Vorsprung vor dem Räuber wähnt er sich in Sicherheit. Welch ein Fehler. Flinte hoch, bumm. Da liegt er im dorren Gras. Welch ein Prachtsexemplar. Dado hat jetzt Feierabend. Meine Jagdkollegen und ich kommen zusammen und setzen uns ins Gras. Jeder nimmt seine Marenda hervor. Wortlos werden Salsiz, Alpkäse und Roggenbrot verspiesen. Jeder tief in seine Gedanken versunken, mit Blick in die herbstliche Bergwelt. Wie lange noch? Wie lange dürfen wir diese Jagd noch erleben? Schneehuhnbrust an Preiselbeersauce, Schneehasenrücken im Teigmantel, Stillebenbild von erlegtem Rotfuchs mit blau-weiss-schwarzen Elstern im goldenen Gras. Bald nur noch Erinnerungen?

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